Stuttgart. Mercedes-Benz setzt immer wieder Maßstäbe in der Automobilsicherheit. Bereits in den 1970er-Jahren baut die Marke im Rahmen des ESF-Programms (Experimental-Sicherheits-Fahrzeuge, auf Englisch „Experimental Safety Vehicles“, ESV) mehr als 30 Versuchsfahrzeuge zur Erforschung künftiger Sicherheitssysteme. Vor 50 Jahren wird der Öffentlichkeit als erstes Fahrzeug dieser Reihe das Mercedes-Benz Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 05 präsentiert. Seitdem folgen weitere ESF der Marke, zuletzt das ESF 2019 mit dem Fokus auf elektrisches und autonomes Fahren. Das ESF 05 wird im Rahmen der 2. ESV-Konferenz vom 26. bis 29. Oktober 1971 in Sindelfingen vorgestellt. Basis des Fahrzeugs ist die Mittelklasse-Baureihe W 114 („Strich-Acht“). Das ESF 05 nimmt zahlreiche Innovationen für die aktive und die passive Sicherheit vorweg, die zum Teil erst Jahre später ihre Serienreife erlangen: Dazu gehören das Antiblockiersystem ABS, der Airbag und der Gurtstraffer.
50 Jahre Mercedes-Benz ESF 05
Stichwort passive Sicherheit: Das Thema Insassenschutz ist nie abgeschlossen. Derzeit beschäftigen sich die Ingenieure beispielsweise mit innovativen Sicherheitssystemen für neue Fahrzeuginnenraumkonzepte. Wie werden beispielsweise die Insassen autonom fahrender Autos geschützt, wenn sie drehbare Sessel nutzen, quer zur Fahrtrichtung sitzen oder gar liegende Positionen einnehmen? Und wie können Fußgänger- und Fahrradfahrerverletzungen weiter verringert werden, wenn diese mit einem Fahrzeug kollidieren, weil ihre Wege sich in vielen Städten immer häufiger mit jenen der Autos kreuzen?
Sicherheit gewinnt an Bedeutung
Mitte der 1960er-Jahre steigt mit zunehmender Motorisierung die Zahl der Verkehrsunfälle rapide. 1970 kommt es zu einem traurigen Rekord: Allein auf den westdeutschen Straßen verlieren 19.193 Menschen ihr Leben. Diese Entwicklung verläuft in anderen Ländern ähnlich und ist bereits in den Jahren zuvor absehbar. Als Reaktion darauf startet 1968 das US-amerikanische Verkehrsministerium (Department of Transportation, DOT) ein Programm zur Entwicklung von Experimental-Sicherheits-Fahrzeugen. Daraus entsteht die seit 1970 veranstaltete „Technical Conference on the Enhanced Safety of Vehicles“.
Die amerikanische Regierung möchte das Programm international aufstellen. So wird ebenfalls 1970 das „European Enhanced Vehicle-safety Committee“ (EEVC) ins Leben gerufen. Mercedes-Benz als Vorreiter auf dem Gebiet der passiven Sicherheit unterstützt die neuen Organisationen von Beginn an. Die Anforderungen für ESF-Fahrzeuge werden 1970 definiert. Dazu gehören der Front- und Heckaufprall auf ein festes Hindernis mit 80 km/h und ein Seitenaufprall auf einen Mast mit 20 km/h. Kleinere Unfälle mit bis zu 16 km/h sollen die Fahrzeuge ohne bleibende Verformungen an Front und Heck überstehen. Ebenso ist ein automatisches Gurtsystem vorgesehen.
Safety first beim Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 05
Zu diesem Zeitpunkt ist Mercedes-Benz schon lange der Sicherheit verpflichtet. Für die Personenwagen des ESF-Programms greift die Marke somit bereits auf einen umfangreichen Erfahrungsschatz zurück. Das ESF 05 zeichnen zahlreiche Besonderheiten aus: Neben selbst anlegenden Dreipunktgurten hat es mehrere Airbags. Sie sind vor Fahrer und Beifahrer untergebracht und zudem in den Rücklehnen der Vordersitze, wo sie die Fondpassagiere schützen.
Umgesetzt sind zudem Maßnahmen, um die Anforderungen an Front- und Heckaufprall zu erfüllen: Die Karosseriestruktur des Forschungsfahrzeugs ist vorn und seitlich versteift. Außerdem hat es eine Radstandverlängerung um 100 Millimeter, eine Vorbauverlängerung um 370 Millimeter, einen V6-Versuchsmotor, um Raum für Verformungen zu gewinnen, eine Armaturentafel mit Blechprallkörper im Bereich des Beifahrers sowie zahlreiche Polsterungen diverser Aufprallbereiche durch Polyurethanschaum.
In den Türen sind die vorderen Ausstellfenster entfallen, und elektrische Fensterheber machen die Drehkurbeln in Türen überflüssig. Die Scheinwerfer erhalten eine Leuchtweitenregulierung und eine Scheibenreinigungsanlage, Front- wie Heckscheibe bestehen aus Verbundglas. Schließlich ist das ESF 05 mit einer ABS-Bremse ausgerüstet. Die Gesamtlänge steigt um 655 Millimeter auf 5.349 Millimeter im Vergleich zur Serienlimousine, und das Leergewicht wächst um 655 Kilogramm auf 2.060 Kilogramm.
Die Fortsetzung des ESF-Programms
Insgesamt entwickelt Mercedes-Benz 35 Fahrzeuge im Rahmen des ESF-Programms und stellt zunächst vier davon zwischen 1971 und 1974 der Öffentlichkeit vor. Nach dem ESF 05 ist es im Juni 1972 in Washington anlässlich der 3. ESV-Konferenz das ESF 13, eine stilistische Weiterentwicklung des ESF 05. Das ESF 22 entsteht auf Basis der S-Klasse der Baureihe 116 und wird im März 1973 während der 4. ESV-Konferenz in Kyoto gezeigt. Heute ist es im Mercedes-Benz Museum zu sehen. Auf der 5. ESV-Konferenz präsentiert die Marke eine weiter modifizierte S-Klasse derselben Baureihe.
Ein Blick auf die jüngere Zeit: Als kontinuierlicher Schrittmacher in Sachen Sicherheit rückt die Marke auf der 21. ESV-Konferenz im Juni 2009 in Stuttgart das ESF 2009 auf Basis der S-Klasse der Baureihe 221 ins Rampenlicht. Oder das ESF 2019: Dieses greift wie alle Fahrzeuge dieses seit nun 50 Jahren laufenden Programms erneut Trends auf, die weit in die Zukunft weisen. Da geht es um die Sicherheit von elektrischen Antrieben und Batterien bei Unfällen und auch um den Insassenschutz beim vollautonomen Fahren. Immer mehr und immer ausgefeiltere Assistenzsysteme tragen dazu bei, dass Kollisionen verhindert werden. Die Forschung und Entwicklung der Fahrzeugsicherheit geht immer weiter. So sind die Vorbereitungen für die 27. ESV-Konferenz im April 2023 in Yokohama bereits in vollem Gange.
Fahrzeuge wie das Mercedes-Benz ESF 05 haben mit ihren Sicherheitsinnovationen ihren Teil dazu beigetragen, dass die Zahl der Todesfälle im Straßenverkehr seit 50 Jahren drastisch abnimmt. Um noch einmal auf Deutschland zu schauen: Im Jahr 2020 liegt die Zahl der Todesfälle bei 2.719 – für das gesamte heutige Bundesgebiet mit den ost- und westdeutschen Ländern zusammen. Das ist eine enorme Verbesserung – bei einer gleichzeitigen erheblichen Zunahme der gefahrenen Kilometer im Straßenverkehr.